Hessen:
Die Residenzen Kassel und Marburg
mit Aspekten Nieder- und Oberhessens -
Landschaft, Geschichte, Kultur

Exkursion mit Dr. Werner Budesheim, Wentorf/Reinbek
vom 28. Juni bis 4. Juli 2003
Reisebericht von Manfred Maronde

1. Bodengestalt
2. Besiedlung
3. Steinkammergräber, Menhire
4. Oppidum aus der Keltenzeit
5. Die Christianisierung
6. Klöster
7. Die kleinen Städte
7.1 Fritzlar
7.2 Homberg (Efze)
7.3 Melsungen
7.4 Rotenburg (Fulda)
7.5 Spangenberg
7.6 Großalmerode
7.7 Friedewald
7.8 Neustadt
8. Die großen Städte
8.1 Kassel
8.2 Marburg

Ein so umfangreicher Titel verspricht eine Themenvielfalt, wie sie Dr. Werner Budesheim im Jahresprogramm der Freien Lauenburgischen Akademie e.V. angekündigt hat. Der Leiter der FLA kann hier aus dem Vollen schöpfen, ist doch der hessische Norden seine Heimat und hat er doch in Marburg studiert - und seine Frau kennen gelernt.

Hessen ist ein Durchgangsland, in der Mitte Deutschlands, und wird meist auf dem Weg in die Berge oder an die See auf Autobahnen durchfahren. Lassen Sie mich bei der geologischen Gestalt des Gebietes beginnen.

1. Bodengestalt
Hessen ist ein Land, in dem die Erdgeschichte ihren Sack ausgeschüttet hat.1 Als Norddeutscher nimmt man die Hügellandschaft als etwas „Mitteldeutsches im Unterschied zur Tiefebene bzw. zu den Endmoränen wahr. Das west- und das osthessische Bergland sind zwei grundverschiedene Mittelgebirge. Sie werden getrennt durch die westhessische Senke, die Teil eines Grabenbruchs ist, der sich vom Rhône-Tal über das Oberrhein-Tal bis in den Oslo-Fjord erstreckt und damit ganz Europa tektonisch spaltet.2 Diese Senke verbindet die Main-Mündung mit dem Zusammenfluss von Fulda und Werra. Schon im Raum Kassel nehmen wir die Schichtstufen war, die von Norden flach ansteigen und nach Süden steil abbrechen - so auch von der Stadt Kassel selbst zu ihren Fulda-Auen hin befindet sich eine Bruchstufe.
Bildname
Diese geomorfologische Struktur beeinflusst entscheidend das hessische Klima, denn durch den Nord-Süd-Verlauf stehen diese Stufen praktisch im rechten Winkel zu den vorherrschenden Windrichtungen.3 Durch diesen „Lee-Effekt" gehört die westhessische Senke zu den niederschlagsärmsten Gebieten Deutschlands. Auch wir Reisende haben hiervon profitiert.

Der Fluss Schwalm fließt in die Eder, diese in die Fulda, und diese wiederum in die Werra, denn Weser und Werra sind sprachlich gleich zu sehen. Dagegen fließt die Ohm zur Lahn, die dem Rhein kurz oberhalb von Koblenz zufließt. Die engen Flusstäler waren von Anfang an die Trassen für die Verkehrswege. Die Basaltkuppen aus der vulkanisch aktiven Zeit des Tertiärs sind meist noch heute bewaldet und heben sich wie Zipfelmützen aus der grün-gelb gemusterten Kulturlandschaft heraus.

2. Besiedlung
Im Hessischen Landesmuseum kann man mehr erfahren zur Besiedlung dieses Raumes. Die Michelsberger Kultur (etwa 2300 bis 2000 v. Chr.), die Steinkisten-, Schnurkeramiker- und Glockenbecher-Leute (seit etwa 2000) und die nachfolgenden bronze- und eisenzeitlichen Kulturen der Hügelgräber-Leute lösten einander ab.4 Die Hallstatt-Kultur am nördlichsten Rand des Verbreitungsgebietes der Kelten folgte ihnen (links: Krieger-Statue, frühe Latène-Zeit, Landesmuseum Kassel).


Um Christi Geburt war das nördliche Hessen von Germanen besiedelt. Bereits im ersten vorchristlichen Jahrhundert waren sie mit der römischen Militärmacht und Kultur in Kontakt gekommen.5 Der Stammesname „Hessen", vielleicht übersetzt die „Hasser", leitet sich von den Chatten ab, wobei das ch als k wie im Lateinischen zu sprechen ist, allerdings zu ch hin behaucht (rechts: Ritzzeichnungen vorn links am Steinkammergrab Züschen).
Bildname
Bildname
3. Steinkammergräber und Menhire
Zur Gemeinde Lohne gehört das Steinkammergrab von Züschen, dessen Name sich vom germanischen Ziu für Gott ableitet (davon das englische Tuesday). Dieses Grab wurde 1894 gefunden und ist in letzter Zeit mit einem Dach und einem Metallgitter gesichert worden. Dort wartete auf uns Dr. Kneipp, um uns ausführlich über die Entstehung, Verwendung und Bedeutung der Ritzzeichnungen zu informieren. Die Grabkammer stammt aus der Wartbergkultur, also der Mitte des 3. Jahrtausends, also um 2500 vor Christi Geburt. Die Kammer ist 20 Meter lang und 3,50 Meter breit. Decksteine hat sie keine mehr, jedoch einen Türstein mit einem runden Loch von 0,50 Meter Durchmesser. Hier hindurch wurde damals bestattet, auch wir konnten hindurch kriechen. Die Ritzzeichen stellen Rinder, auch einen Wagen, und die sog. Dolmengöttin dar.6 In der Kammer wurden Knochen von 27, Schädel jedoch von 47 Menschen gefunden.

Am Rand des Dorfes Maden steht der rund 2 Meter hohe sog. Wodan- oder Wotan-Stein. Dort lag die Thingstätte des Hessengaus. Auch dieser Menhir ist aus der Wartbergkultur. Ob sich das bis heute nicht gefundene Mattium hier befand, stand zur Diskussion. Nach Dr. Budesheim hätte Maden im Althochdeutschen Mathen (mit einem englischen th) heißen müssen. Dieses Zeichen konnten aber die Römer nicht schreiben. Sprachlich eher würde er eine Ableitung von Mette bzw. Metze für möglich halten, dort aber sind keine Spuren in der Landschaft zu finden.

Und noch einen „langen Stein" - nichts anderes bedeutet das keltische Menhir auf deutsch - haben wir gesehen. Der Ort bei Kirchhain heißt auch Langenstein. Sein Menhir (oben) steht aber mitten im Ort, und zwar vor der Ecke der Friedhofsmauer. Er ragt mehr als 5 Meter aus dem Boden und ist zur Bergseite oben abgeschrägt. Einer unserer Mitreisenden nimmt an, dass ähnlich wie in Schottland diese Schräge absichtlich angelegt wurde, um eine astronomische und damit kultische Aussage zu treffen, auch wenn ein Blitzeinschlag in den Stein überliefert ist.

4. Oppidum aus der Keltenzeit
Bei Niedenstein haben wir die Altenburg gesucht. Über schmaler werdende asphaltierte Feldwege kamen wir an den mit Buchen bestandenen Hügel. Einen schmalen Waldweg am Hang fuhr uns der Busfahrer Lutz Hanke hinauf. Uns allen - und ihm auch - war es ein Rätsel, wie wir von dort wieder hinunter kommen sollten. Aber die „Erstbefahrung" gelang, auf der anderen Seite führte der Weg wieder hinunter, denn an keiner Stelle war es möglich zu wenden.

Die Altenburg ist also keine Burg, sondern ein Bodendenkmal, das vollständig bewaldet ist. Diese Anlage mit einer Innenfläche von 15 Hektar stammt aus der Latène-Zeit um 400 bis 70 vor Christi Geburt, also etwa dem Durchzug des Sueben-Herzogs Ariovist. Der höchste Punkt ist das „Dornköpfchen, dahinter liegt eine Schlammgrube, die als Tonlager einer Töpferei gedeutet wird.

Rund zwölf solcher keltischen Höhensiedlungen sind in Hessen bekannt. Wir besuchten als zweite Christenberg, vormals Kesterburg (vielleicht Kastenburg), das zu der im Tal gelegenen Gemeinde Münchhausen gehört. Dort oben steht eine Kirche, die zum Teil noch aus der Bonifatius-Zeit stammt, und inmitten eines noch heute genutzten Friedhofes. Die Wallanlagen auf dem Landsporn sind noch erkennbar, auch die Fundamente eines Steintores. Ob wirklich ein Fußabdruck von Bonifatius in einem Stein steckt, ist wohl eher eine Legende.
Bildname
Bildname
Die Siedlung auf dem Hügel ist längst verschwunden, anders als in Amöneburg. Auch diese Grenzfestung gegen die lange heidnisch gebliebenen Sachsen liegt hoch. Die Kleinstadt mit etwa 5.000 Einwohnern hat eine Felssteinmauer und eine hübsche Burg mit rundem Bergfried und einer märchenhaften altrosa blühenden Kletterrose daran. Ihr ehemaliges Kloster wurde 722 von Bonifatius gegründet. Stadtrechte erhielt der Ort Anfang des 13. Jahrhunderts vom Erzbischof von Mainz.7 Katholisch blieb es bis heute im überwiegend protestantischen Hessen.

Die Funktionen einer Stadt sind aber überwiegend verloren gegangen (Mauer ja, Marktrecht vielleicht, Versorgung in das Umland bzw. Versorgung aus dem Umland, Verwaltungsaufgaben u.ä. nicht mehr). Eigentlich ist Amöneburg heute ein Dorf. Dr. Budesheim bezeichnet den Ort als Zwergstadt, auch als Minderstadt, weil u.a. im Mittelalter kein Münzrecht bestand.

5. Die Christianisierung
Der germanische Stamm der Franken hatte sein Territorium zum großen Teil im römischen Reich, also linksrheinisch. Die drei Erzbistümer Trier, Mainz und Köln hatten lange Zeit keinen Einfluss auf die nordöstlich lebenden Germanen. Deren Mission hatten sich irische, schottische und englische Mönche vorgenommen. Der bekannteste von ihnen war Winfrid Bonifatius, den wir den „Apostel der Deutschen" nennen.

Geboren wurde Winfrid um 672 bis 675 in der englischen Grafschaft Wessex. Gegen den Willen seines Vaters ging er ins Kloster. 716 setzte Winfrid auf das Festland über, um die Friesen zu bekehren. Dieses Volk sah ihn nicht gern, denn es wehrte sich gegen die christlichen Franken. Er kehrte zurück, brach aber bereits 718 nach Rom auf. Mit dem Auftrag des Papstes zur Heidenmission kehrte er zurück und nahm den Namen des Märtyrers Bonifatios von Tarsos an.8 Jetzt wählte Bonifatius die Stammesgebiete der Chatten und Thüringer, die unter fränkischer Oberherrschaft standen, als Missionsgebiet. 721 kam er nach Amöneburg im Ohmbecken (der Ort müsste eigentlich Ohmeneburg heißen, wurde jedoch nach lat. „amoenus" „liebliche Burg" genannt). 754 kam Bonifatius im friesischen Dokkum um, seine Gebeine liegen noch heute im Dom zu Fulda.
Bildname

6. Klöster
In der Gemeinde Guxhagen steht noch das Kloster Breitenau. Es wurde vom Benediktinerorden 1113 in der „breiten Aue" zwischen Fulda und Eder gegründet. Der heutige Bau stammt von 1130 - 70 und bestand bis zur Reformation 1527. Ab 1607 wurde die Anlage zu einem landgräflichen Lustschloss ausgebaut. In der nationalsozialistischen Zeit war Breitenau zunächst „Konzentrationslager für politische Häftlinge" mit 470 Gefangenen, ab 1940 Arbeitserziehungslager. Seit 1949 dient die Anlage wieder fürsorglichen Zwecken, heute ist sie Außenstelle psychiatrischer Krankenhäuser.9

Auch in Altmorschen haben wir ein Kloster von außen angesehen. Diese Anlage, Kloster Haydau, steht nach der Überlieferung an einem Platz, an dem schon 723 Bonifatius eine Kapelle errichtet haben soll. Das Kloster wurde ab 1234 von Zisterzienserinnen gebaut. 1556 entstand dort eine der ersten Dorfschulen Niederhessens, 1619 wurde die Anlage ebenfalls landgräfliches Schloss. Heute hat Haydau einen schönen Garten und dient als Kinderheim, wird aber auch als „Seminar- und Kulturzentrum" beschildert.10
Bildname
7. Die kleinen Städte
Die bis heute bekannteste Tat von Bonifatius ist die Fällung der Donar-Eiche bei Geismar, heute ein Teil von Fritzlar. 724 wurde von ihm das dortige Kloster gegründet. Fritzlar liegt an der Eder, die damals das Grenzgebiet zwischen Franken und Sachsen durchfloss. Der Dom steht an der Stelle des ersten Bethauses, wie die Domführerin uns erklärte. Fritzlar wuchs zu einer bedeutenden Stadt und hatte das erste Münzrecht Hessens. Jedoch sank der Ort von einer Weltstadt zur Ackerbürgerstadt. Wir jedoch erlebten diese Stadt mit 15.000 Einwohnern quicklebendig, es wurde ein Altstadtfest gefeiert, und viele schmucke Bürgerhäuser und gute Lokale machten uns den Aufenthalt angenehm.

Eine weitere Stadt ähnlicher Größe (14.500 Einwohner) ist die Kreisstadt Homberg an der Efze. Der Flussname deutet auf eine keltische Herkunft, die wir mit Ach nach Aqua für „Wasser, Gewässer" (kelt. Affa) verbinden können. Homberg hat viele Fachwerkhäuser (Bild unten) und oberhalb von seinem länglichen Marktplatz die Marienkirche und dahinter auf einem mühsam zu besteigenden Berg die Burg. Diese Burgruine ist gut hergerichtet, hat einen 150 Meter tiefen Brunnen und einen runden Bergfried mit einer komfortablen Treppe darin. Von oben bietet sich ein weiter Ausblick in alle Himmelsrichtungen.

Homberg wird Stadt des Hessentages 2008, wofür es schon jetzt wirbt. Die Mercedes-Werkstatt hat den defekten Schlauch am Motor des Busses schnell repariert, so dass wir ohne Verzögerung weiter reisen konnten.

Fast noch malerischerer, jedoch im Tal der Fulda, liegt Melsungen. Mit seinen 13.000 Einwohnern ist es zwar keine Kreisstadt mehr, aber Luftkurort und kulturelles Zentrum im nordöstlichen Schwalm-Eder-Kreis.11
Bildname
Bildname
Das Landgrafenschloss ist aus der Renaissance und beherbergt heute das Amtsgericht und das Finanzamt. Über die Fulda führt, nur noch für Fußgänger, die Bartenwetzer-Brücke von 1595. Barten sind Äxte oder Beile, die an den Sandsteinen geschärft wurden (links).

Wir besuchten auch Rotenburg an der Fulda, mit 14.500 Einwohnern auch Luftkurort und Stadt seit 1075. Die Schleuse ist leider außer Betrieb, das hölzerne Tor rottet vor sich hin. Aber das Landgrafenschloss, dessen linker Flügel unten aus der Renaissance, alles Andere aus dem Frühbarock stammt, ist sehr prächtig. Am linken Portal steht die Zahl 1622, Landgraf Wilhelm IV. begann den Bau, Landgraf Moritz stellte ihn fertig. In ihm befindet sich jetzt die hessische Finanzschule. Im Park liegt ein Baum, der auf 158 - 56 v. Chr. datiert worden ist.

An meinen früheren Kollegen Alexander Spangenberg erinnerte mich die Stadt Spangenberg. Der Name kommt aber von Seelilienköpfen im Muschelkalk. Wir besuchten zuerst die unregelmäßig geformte Kirche St. Jakobi. Das hohe Rathaus überragt den schmalen Marktplatz, die Stadt mit etwa 7.000 Einwohner wirkt eher eng und intim.

Etwas außerhalb, auf einer Anhöhe, liegt das Schloss, mit einem breiten Trockengraben umgeben (rechts). Trocken war es jedoch nicht für uns, ein Schauer Regen ging über uns nieder. Dieses Schloss diente 1871 und 1940 - 45 als Gefängnis für Offiziere, erst französische, dann britische. Jedoch fünf Tage nach Kriegsende brannte es durch Bombentreffer aus, ist inzwischen jedoch wieder hergestellt worden.
Bildname
Bildname
In Großalmerode, mit jedoch nur 8.000 Einwohnern, galt unser Besuch dem Heimatmuseum. Sein Leiter zeigte uns einen Videofilm und erklärte uns Leben und Arbeiten in der Ton- und Glasfabrikation. Das Museum bewahrt Original-Werkbänke mit Transmission und ist recht anschaulich. 1537 wurde der Gläsner-Bund gegründet. Heute werden kaum noch Glas- und Tonwaren (links, „Sparbrust") hergestellt. Insbesondere in der Produktion von Tiegeln aller Art und Größe war der Ort stark, obwohl alles was aus Ton gemacht werden kann, vom Pfeifenkopf über Geschirr, vom Schamottstein bis zur Dachpfanne, zum Sortiment gehört hat.

Die kleine Stadt Friedewald hat nach der deutschen Wiedervereinigung als Sprungbrett nach Thüringen vielen Geschäftsreisenden gedient. Deshalb gibt es dort je ein Vier- und Fünf-Sterne-Hotel. Letzteres ist in ein Landgrafenschloss gebaut an die Stelle eines Wirtschaftsgebäudes und bezieht das eigentliche Schloss Landgraf Wilhelms IV. von 1580 mit ein. Im Schloss betreibt der Heimatverein ein Museum, das von außerordentlicher Fülle und Aussagekraft ist. Das Leben diverser Handwerker, Bauern, die Gefallenen der Kriege, die Feuerwehr..., alles wurde thematisiert und veranschaulicht mit vielen von den Bürgern gespendeten und liebevoll arrangierten Gegenständen. Die Finanzen sind knapp, Geldspenden von Seminarveranstaltern werden gern angenommen.
Bildname

Mit viel Idealismus und bei schlechter Bezahlung (eine Gruppe über der Putzfrau) ist die Familie Jost als Pfleger und Führer der Burgruine dabei. Diese Burgruine (links) erschien mir fast zu perfekt, wie eine Filmkulisse aus Babelsberg. Sie hat einen fast quadratischen Grundriss und vier runde Ecktürme, von denen der dickste begehbar ist. Der hintere Querbau trägt ein Dach, hat aber keine Fenster. Darunter ist ein tonnengewölbter Keller. Bestaunt wird jedoch ein original „Wind-Klosett" in der Wand oberhalb des Pallas.

Sozusagen im „Zugabenteil" haben wir auf der Rückreise Neustadt in Hessen gestreift. Wir waren, fast vergeblich, auf der Suche nach einem Café. Der Ort wirkt verschlafen, viele Geschäfte stehen leer. Mit hohem Kraftaufwand wurden Stadtmauer-Reste und die Dreifaltigkeits-Kirche hergerichtet. Der Junker-Hansen-Turm von 1480 ist 50 Meter hoch und mit einem Durchmesser von 13 Meter „größter Fachwerk-Rundbau Europas", wie dort angeschrieben steht.
Hessen2

8. Die großen Städte:
8.1. Kassel
Am Ende war Kassel wüst und wirr. Nach den schweren Bombardements im 2. Weltkrieg war die Stadt zu 85 - 90 % zerstört. Was noch stehen geblieben war, wurde oft noch bis die jüngste Zeit eingeebnet und durch gesichtslose Stahlbeton-Skelettbauten ersetzt. Die Treppenstraße mit Königsstraße und der Königsplatz sind eine der ältesten Fußgängerzonen in Deutschland und bieten eine Menge Einkaufsmöglichkeiten, sonst nichts. An den Abenden zog sich daher ein Teil unserer Gruppe in die Fuldaauen bei der schön renovierten Orangerie und danach in den Ratskeller des renovierten Rathauses zurück.
Bildname
Verkehrlich ist Kassel mit dem neuen ICE-Bahnhof Wilhelmshöhe und der Autobahn A 7 gut angebunden. Der alte Sackbahnhof am Innenstadtrand verödet jedoch. Ein gut ausgebautes Straßenbahnnetz ergänzt die ansonsten sehr autogerecht ausgebaute Stadt gut. Die Stadt hat etwa 200.000 Einwohner und ist wirtschaftliches Zentrum Nordhessens. Geografisch bildet es die Mitte Deutschlands, die Sonnen- und Mond-Auf- und -Untergangszeiten in unseren Kalendern beziehen sich auf Kassel.

Die Bewohner der Stadt teilen sich in drei Gruppen: die Kasseläner, deren Eltern schon hier geboren wurden, die Kasselaner, die selbst hier geboren wurden, und die Kasseler, also die Zugezogenen. Das Hessische Landesmuseum nah an unserem Hotel „Mercure Hessenland" holt jedoch bis in die Vor- und Frühzeit der Menschheit aus. Es zeigt u.a. eine Rekonstruktion des Steinkistengrabes von Züschen, aber auch ein makaberes Skelett aus einem Hügel-Bronzezeitgrab um 1500 bis 1200 v. Chr. (Foto ganz oben). Nicht ganz so alt sind die Handschriften im Tresor der Murhardtschen Bibliothek, aber dort liegt eine aus der „Ausleihe" in die USA zurück gekehrte Seite des Hildebrand-Liedes. Ein weiterer Text aus dem 1. Drittel des 9. Jahrhunderts - die sog. Kasseler Glossen - enthält die älteste bekannte Fundstelle des Wortes „deutsch".

Bislang hatte ich geglaubt, die von den Gebrüdern Grimm zwischen 1812 und 1815 gesammelten 240 „Kinder- und Hausmärchen" wären uraltes Kulturgut. Die kleine Sammlung mit 50 Märchen begründete den Erfolg des am häufigsten übersetzten und wohl am weitesten verbreiteten deutschsprachigen Buches. Zu den bekanntesten Märchen der Sammlung gehören „Frau Holle", „Rumpelstilzchen", „Brüderchen und Schwesterchen", „Dornröschen" und „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren"12. Dr. Budesheim erklärte uns jedoch, die alte „Märchenfrau" Catharina Dorothea Viehmann aus Niederzwehren13, welche diese Märchen aus dem Gedächtnis an die Grimms weiter sagte, habe sie von ihren hugenottischen Vorfahren aus Frankreich mitgebracht. Das Denkmal der Brüder Grimm inmitten bunter Blumenbeete konnten wir täglich auf dem Weg zum Bus betrachten.

Der Ausspruch „Ab nach Kassel!" hat - anders als auf den Internetseiten14 - durchaus einen negativen Beigeschmack. Schloss Wilhelmshöhe, 1786 von Landgraf Wilhelm IX. erbaut, war kurze Zeit Sitz von Jerôme Napoleon, Bruder des Kaisers der Franzosen und von dessen Gnaden König von Westfalen. 1813 war es damit wieder vorbei, der Kurfürst kehrte zurück. Nach dem für Frankreich verlorenen deutsch-französischen Krieg 1870/71 musste Kaiser Napoleon III. für drei Wintermonate in Wilhelmshöhe einsitzen. Als er via Kassel fuhr, rief man ihm in Aachen den spöttischen Satz zu: „Ab nach Kassel!".

Wir eroberten Wilhelmshöhe von oben her. Mit dem Bus fuhren wir bis hinter den Herkules (Bild oben). Zu ihm hinaufsteigen durften wir nicht, Steinschlaggefahr. Der Herkules - Wahrzeichen Kassels - ist 8,25 Meter groß, der Umfang seiner Brust misst 5 Meter, der seines Leibes 4,60 Meter, sein Fuß 1,50 Meter und seine Keule 4,70 Meter. Das gesamte Werk ist 71 Meter hoch.15 Im Sommer wird nur an Sonntagen von 14.30 Uhr an etwa 20 Minuten lang Wasser über Kaskaden geleitet. Allein durch den Wasserdruck entstehen schöne Fontänen - und ein lauter Ton, den zwei antikisierende Statuen blasen. Wir eilten also die rund 900 Stufen hinab wie Tausende andere Sonntagsgäste, um auch von unten schöne Wasserspiele sehen zu können.
Bildname

Der Mittelteil des Schlosses - nach dem Brand im letzen Krieg praktisch ein Neubau - beherbergt drei bedeutende Sammlungen: die Antikensammlung, die Gemäldegalerie Alte Meister und die Grafische Sammlung. An die Gemälde erinnere ich mich noch dunkel aus meiner Kindheit, von einer Klassenreise, natürlich nicht in Einzelheiten. Die Namen Rubens (oben rechts, „Venus, Amor, Bacchus und Ceres", 1612), van Dyck, Jordaens, Rembrandt, Hals16 u.s.w. sagen mir jetzt - drei Jahrzehnte und viele Reisen in bedeutende Galerien überall in Europa und insbesondere nach Flandern mit Dr. Budesheim später - viel mehr. Auch die antiken Statuen, Vasen, Münzen u.a. sind sehenswert. Ein echter Geheimtipp, aber bringen Sie Zeit mit!
Bildname
Völlig anders, aber ganz im Barockstil und noch im Originalzustand, präsentierte sich uns Wilhelmsthal beim Dorf Calden. Der Garten war anfänglich im Rokoko strahlenförmig angelegt, wobei der mittlere Strahl eine Achse aus Teichen und einer Kaskade bildete. Wenige Jahrzehnte danach wurde die gesamte Anlage im Stil eines englischen Landschaftsgartens umgestaltet, wie wir sie heute noch finden und begehen können.

Das Schloss selbst ist als Dreiflügelanlage um einen Ehrenhof gebaut.17 Mit seiner strengen Symmetrie strahlt es Ruhe aus. Uns haben jedoch die verschiedenen Grün- und Türkis-Töne an Geländern, Fensterläden o.ä. irritiert.
Bildname

Aber damit soll die Kritik auch schon aufhören, das Schloss von 1747 mit seiner kompletten Inneneinrichtung ist märchenhaft schön. Das höfische Leben damals und heute (unter Landgrafen und Ministerpräsidenten) schilderte uns sehr anschaulich und mit viel Humor Herr Witt, der eigentlich schon fünf Jahre Rentner ist.

8.2 Marburg
Eine quicklebendige, junge und zugleich alte Stadt ist Marburg mit ihren 18.000 Studenten bei 83.000 Einwohnern. Der Ortsname kommt übrigens von der Mark, müsste also Markburg lauten. Ein Schicksal mit Kriegszerstörungen ist Marburg erspart geblieben. Auf Marburgs Marktplatz, der auf halber Höhe zum Gisonenberg mit dem Schloss liegt und durch die Neustadt über drei übereinander liegende gepflasterte Straßen wie dem Steinweg erklommen werden muss, hat 1248 Sophie von Brabant, Tochter der heiligen Elisabeth, das Land Hessen proklamiert. Zur Elisabeth gleich mehr.
Bildname
Am Markt steht seit 1527 das Rathaus. Der schlichte Steinbau im Stile der Spätgotik wird durch einen Treppenhausvorbau, den ein Renaissancegiebel krönt, aufgelockert. Auf dessen Spitze thront ein Wahrzeichen der Stadt, der Rathausgockel, der zu jeder vollen Stunde mit den Flügeln schlägt und zusammen mit dem Türmer, dessen Fanfarenstoß eher einem Hahnenschrei ähnelt, Laut gibt. Unten am Treppenturm ist der Wappenstein von Ludwig Juppe (links) eingelassen, eine Kopie des Originals, das jetzt im Schloss ist. - Hier im Rathaus haben sich nach 5 ½ Jahren „Studium" Dr. Werner und Ulrike Budesheim das Ja-Wort gegeben.

Marburg hat eine Universität, nein Marburg ist eine Universität. Die alma mater Philippina, erste protestantische Hochschule, wurde 1527 von Landgraf Philipp dem Großmütigen gegründet. Hier studierten neben den bereits Genannten der Erfinder der Kolbendampfmaschine, Denis Papin, die Märchensammler Jakob und Wilhelm Grimm, der „Brenner-Erfinder" Robert Bunsen, der erste Medizin-Nobelpreisträger, Emil von Behring, der Atomphysiker Otto Hahn, der „Dr. Schiwago"-Dichter Boris Pasternak, der Entdecker der Kontinentalverschiebungen, Alfred Wegener, der Wörterbuch-Verfasser Konrad Duden und Bundespräsident Gustav Heinemann.18

Wir erkundeten und erklommen die Stadt sowohl abends als auch tagsüber. Im Landgrafenschloss befinden sich Museen und ein Fürstensaal. Die ursprüngliche Burg wurde bereits auf das 10. Jahrhundert zurück geführt. In der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde sie als Verwaltungsmittelpunkt für die hessischen Landesteile von den Landgrafen von Thüringen errichtet.

Ihnen ist vermutlich auch schon die Ähnlichkeit der beiden „Landeskatzen" (Zitat Prof. Kiesow, Deutsche Stiftung Denkmalschutz) von Thüringen (rechts) und Hessen (links) aufgefallen. Der Titel „Landgraf" bestand im alten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation anfänglich nicht. Kaiser Lothar III. von Supplingenburg richtete ihn zur Rangerhöhung ein.
Bildname

Ein Landgraf war ein Fürst, der eine herzogsgleiche Stellung besaß, und vorrangig dem König zu dienen hatte. Heinrich I. von Hessen bekam diesen von den thüringischen Ludowingern übernommenen Titel 1292 in Frankfurt am Main. Die Landgrafschaft Hessen fiel nach seinem Tod in ein Marburg umschließendes Oberhessen und ein von Kassel regiertes Niederhessen. Bis ins 15. Jahrhundert flammten zudem immer wieder Konflikte mit dem Erzbistum Mainz auf.19 Im Bild unten: „Marburger Religionsgespräch" zwischen Luther und Zwingli 1529, Gemälde von 1867.

Marburg war vor allem die Stadt der heiligen Elisabeth. Sie ist - neben der Jungfrau Maria und dem heiligen Georg - die dritte Schutzpatronin des Deutschen Ordens. Wer war Elisabeth? Als ungarische Königstochter wurde sie als Vierzehnjährige 1221 mit Landgraf Ludwig IV. von Thüringen verheiratet. Sie lebte bereits von ihrem vierten Lebensjahr an auf der Wartburg. Ihr geistliches Vorbild war der heilige Franz von Assisi.
Bildname

Schon als Landgräfin nahm sie sich der Hungernden und Kranken an. 1227 starb ihr Gemahl auf einem Kreuzzug. Elisabeth floh über Eisenach nach Marburg, wo sie ein Franziskus-Spital errichtete. Sie verzehrte ihr Leben in der dienenden Liebe zu Christus und seinen geringsten Brüdern - nach ihrem Worte: „Wir müssen die Menschen fröhlich machen". 20

Bald nach ihrem frühen Tod mit nur 24 Jahren setzten Pilgerfahrten ein. Ihr Schwager Konrad, Landgraf und späterer Hochmeister, siedelte hier 1233 den Deutschen Orden an. Bereits 1235 wurde Elisabeth heilig gesprochen. Die Kirche wurde 1283 geweiht. Sie hatte drei Funktionen: Grabstätte der heiligen Elisabeth und damit Wallfahrtskirche, Grabstätte der hessischen Landgrafen und Ordenskirche der Deutschritter.

Dieser erste rein gotische Kirchenbau auf deutschem Boden wird durch das Hauptportal im Westen betreten. Bezaubernd schön ist die Statue an der linken Ecke des Querhausarmes. Elisabeth, im festlichen Gewand mit schmaler Taille, um den Kopf geschlungenen Schleier und mit dem Modell der Kirche in der linken Hand. Ein unvergesslicher Anblick! Auch im Chor an der rechten Wand ist eine Elisabeth-Statue. Ein Chorfenster stellt in Medaillons ihr Leben dar. Und vorn rechts hängt ein Elisabeth-Altar. Darin befindet sich auch ein Bild mit dem Gekreuzigten im Ehebett. Der Legende nach wurde Elisabeth dabei erwischt, einen Aussätzigen aufgenommen zu haben. Als der Landgraf nachsah, rief er erstaunt: „Liebe Schwester! Solche kannst du mehr in mein Bett legen."
Bildname
Bildname
Der Elisabeth-Schrein in der sog. Sakristei ist von ähnlicher Pracht wie der Aachener Karlsschrein oder der Drei-Königs-Schrein in Köln. In der Kirche hatte von 1946 bis 1951 der Sarg von König Friedrich II. von Preußen gestanden, der später über Hechingen an seinen endgültigen Bestimmungsort vor Schloss Sanssouci in Potsdam kam. Dagegen blieb der Leichnam des Reichskanzlers von Hindenburg hier.

Für uns von der Freien Lauenburgischen Akademie war selbstverständlich der Kreuzaltar wichtig. Der von Ernst Barlach 1918 entworfene Kruzifixus für die Kriegsgräber im Osten steht seit 1931 hier. Diese Bronzefigur sollte im 2. Weltkrieg eingeschmolzen werden. Mutige Menschen haben sie zwar abgehängt, aber auf einem Dachboden und später in einem Wohnhaus verborgen.


Nach sieben Tagen hieß es Abschied nehmen aus Marburg und aus Hessen. An würdiger Stelle, unter tiefem Himmel oben auf dem „Christenberg", an Stelle eines früheren keltischen Oppidums, hat sich die Gruppe bei Dr. Werner Budesheim und seiner geduldigen Ehefrau für die hervorragende fachliche Führung und die sorgfältige Planung dieser Studienfahrt bedankt. Nun sind wir schon gespannt auf das Reiseziel im nächsten Juli.
Bildname

Autor: Manfred Maronde, Neuruppin

1 aus: „Deutschland - Porträt einer Nation, Bertelsmann Lexikothek Verlag, Gütersloh, 1986, Seite 192, Beitrag von Alfred Pletsch
2 ebenda, S. 193
3 ebenda, S. 194
4 ebenda, Beitrag von Heinrich J. Dingeldein, S. 288
5 ebenda
6 aus: Steinkammergräber und Menhire in Nordhessen, heraus gegeben von den Staatl. Kunstsammlungen Kassel, Heft 5, 1989
7 wie 1, Seite 247
8 aus: Erbe und Sendung - Winfrid Bonifatius, Werner Kathrein und Dieter Wagner, Éditions du Signe, Strasbourg, 2001
9 z.T. gem. Tafel am Kloster
10 z.T. gem. Tafeln an der Klostermauer
11 wie 1, Seite 253
12 aus: Microsoft Encarta 2001
13 wie 1, Seite 301, Beitrag von Charlotte Oberfeld
14 www.kassel.de
15 wie 12, Seite Herkules
16 aus: Schloss Wilhelmshöhe Kassel, Prestel Verlag München
17 aus: Calden - Schloss und Garten Wilhelmsthal, heraus gegeben von der Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen, Bad Homburg v.d.H. 1980
17a siehe mein Reisebericht mit Prof. Dr. Ulrich Matthée
18 aus: Universitätsstadt Marburg, Verlag Klaus Laaser, Marburg 1995, Vorwort von Rainer Kieselbach
19 Tafel im Museum Schloss Marburg
20 aus Faltblatt: Die Elisabeth-Kirche in Marburg/Lahn, heraus gegeben vom Gesamtverband der Evangelischen Kirchengemeinden Marburg/Lahn
ReisenlisteReiseberichte